Pfarrerin Katharina Ufholz




Lernt Gutes tun,
trachtet nach Recht,
helft den
Unterdrückten,
schafft den Waisen Recht,
führt der Witwen
Sache!





(Jes 1,17)




Modesta lebt in Kenia. Sie ist 38 Jahre alt. Es ist nicht leicht
für sie, sich und ihre vier schulpflichtigen Kinder durch den Tag zu
bringen, vor allem seit ihr Mann gestorben ist. Das ist erst ein
halbes Jahr her. Nicht lange nach seinem Tod kam die Familie ihres
Mannes und warf Modesta aus ihrer Hütte. Das Land gehöre jetzt ihrem
Schwager, sie solle ihre Kinder und ihre Sachen packen und
gefälligst verschwinden! So wie Modesta ergeht es vielen Witwen in
Kenia. Nach traditionellem Recht dürfen Frauen dort kein Land
besitzen, auch wenn die neue Verfassung längst etwas anderes sagt.
Modesta blieb nichts anderes übrig, als ihr Heim zurück zu lassen
und mit ihren Kindern ein neues Leben zu beginnen – ein noch ärmeres
Leben, mitten in den Slums von Nairobi.




Jesaja ist ein Sprachrohr




“Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten,
schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!” Diese alten Worte
aus dem Buch des Propheten Jesaja scheinen an Aktualität nichts
verloren zu haben. Sie klingen bis in unsere Gegenwart
hinein.



Vor über 2700 Jahren gelten sie Gottes Volk. Gott benutzt den Propheten
Jesaja als Sprachrohr und macht seinem ärger Luft. Im Vorfeld zu unserem
Monatsspruch begegnet uns nämlich ein regelrechter Wutausbruch Gottes:
“Herren von Sodom und Volk von Gomorra” beschimpft er sein Volk. Harte
Worte! Er lässt kein gutes Haar an ihren Gottesdiensten und ihren
Opfern. Ihre Gebete hört er schon lange nicht mehr und ihre Feste hat er
satt! Denn die Menschen handeln nicht nach seinem Willen. Witwen und
Waisen, Arme und Kranke werden unterdrückt, an den Rand der Gesellschaft
gedrängt, ja ausgegrenzt. Gottes Volk hat vergessen, dass Gottesdienst
und der Dienst am Menschen ganz eng miteinander verknüpft sind. Ohne
soziale Gerechtigkeit ist auch der Gottesdienst nichts wert.



Nachhaltiges Lernen braucht Zeit



Gott fordert sein Volk auf, den alten Weg zu verlassen: “Hört auf,
Böses zu tun!” Und er selbst eröffnet ihnen einen neuen Weg in die
Zukunft: “Lernt Gutes tun!”

Könnte
diese Aufforderung nicht noch ein wenig deutlicher und direkter sein?
Tut Gutes!”, zum Beispiel. Aber Gott scheint es
tatsächlich auf das
Lernen


anzukommen.



Nachhaltiges Lernen braucht Zeit. Es ist ein Prozess. Wer einen
Pianisten fragt, wie er ein Klavierstück lernt, der wird zur Antwort
bekommen: Indem er das Stück wieder und wieder übt, sich hinein
vertieft, bis die Finger den Weg über die Tasten irgendwann wie von
selbst finden. Lernen bedeutet nicht, beim ersten Ausprobieren schon ein
Meister zu sein. Es setzt vielmehr die Bereitschaft voraus, erst einmal
genau hinzusehen. Wer lernen will, muss sich vertraut
machen mit der Materie. Er muss sich auf die Sache konzentrieren. Vor
allem muss er Zeit investieren. Lernen ist also nichts für
Bequeme!



“Lernt Gutes tun! Seht nicht weg, wo Menschen Unrecht geschieht,
sondern seht genau hin! Versetzt euch hinein in die Situation
benachteiligter Menschen! Lasst euch anrühren von ihrer Not! Und
dann macht euch an die Arbeit, ihnen zu helfen!”




Nicht losgelassen




Jetzt, da ich den Hintergrund zu unserem Monatsspruch kenne, frage ich
mich, was für ein Gott mir darin begegnet. Ich höre die drohende, fast
brüllende Stimme. Und vor meinem inneren Auge sehe ich einen erhobenen
Zeigefinger. Ich sehe das Bild eines zornigen Gottes, eines Gottes, der
mir fremd ist. Ich frage mich, ob die harten Worte von damals auch für
sein heutiges Volk gelten?



Modesta aus Kenia kommt mir wieder in den Sinn. Ihre Geschichte hat
mich nicht losgelassen. Ich denke darüber nach, wie es ihr wohl
heute geht, in den Slums von Nairobi. Auch an die vielen Menschen
denke ich, die in unserer Gesellschaft am Rande stehen. Das
zum Himmel schreiende Unrecht macht mich wütend.



Jesus nachfolgen



Urplötzlich habe ich wieder Gott vor Augen, doch statt seiner Wut
entdecke ich auf einmal etwas anderes: seine brennende Liebe. Ich
begreife ihn als Gott, der will, dass es allen seinen Kindern
gut geht. Als einen, der es nicht erträgt, Menschen wie Modesta
unterdrückt und hilflos zu sehen. Gott – ein Vater der Waisen, ein
Helfer der Witwen. Er solidarisiert sich mit den Schwächsten und wird
erst so zu einem Gott für alle.



In Jesus ist er schließlich den Weg in unsere Welt gegangen, mitten
hinein ins Elend, an die Ränder der Gesellschaft. Ausgegrenzte holt er
zurück ins Leben, den Unterdrückten verleiht er eine Stimme.



“Lernt Gutes tun!”, höre ich ihn wieder sagen. Und am besten gelingt
uns das, indem wir ihm darin nachfolgen.

Katharina Ufholz ist seit 2012 Pfarrerin in Wolfhagen und
Leckringhausen