Mitte des 16. Jahrhunderts schrieb der Wolfhager Bürger Hans Staden
die Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden /
Necketen / Grimmigen Menschenfresser Leuthen / in der Neuwen Welt America
gelegen …
Darin berichtet er über seine zwei Reisen nach Brasilien
und seine Erlebnisse während seines siebenjährigen Aufenthaltes in Südamerika.
Darüber hinaus liefert er eine setaillierte Beschreibung des Stammes der
Tupinamá, als deren Gefangener er gelebt hatte. Im Regionalmuseum in
Wolfhagen findet der Besucher Literatur (u. a. eine empfehlenswerte Ausgabe
zum Vorlesen für Kinder) und einen Hans-Staden-Raum.

Ein Nordhesse

entdeckt Amerika.

Hans Stadens Reisebericht aus dem Jahr 1557
Am 24. und 25. April 2015 fand eine öffentliche Fachtagung im
evangelischen Gemeindezentrum statt. 50 Teilnehmer, Wissenschaftler und Laien,
waren zum Teil von weit her angereist, um neue Erkenntnisse zur Warhaftigen
Historia
von Hans Staden auszutauschen. Und die Gäste staunten: Hans
Staden wird – ganz anders als in Brasilien – in Deutschland, in Wolfhagen, immer
noch unterschätzt.

Hans Staden kannte
Martin Luthers Lehrstücke
und konnte
sie deutend


in seiner Notlage nutzen
Zu Beginn der Tagung beschrieben Wolfgang Schiffner (Wolfhagen) und
Dr. Franz Obermeier (Kiel) die Lebenswelt des einfachen Mannes im 16.
Jahrhundert in Deutschland und Brasilien. Ein Höhepunkt der Tagung war für viele
Teilnehmer der Vortrag von Dr. Uwe Schäfer (Homberg) über reformatorische
Aspekte des Stadenberichts. Er zeigte durch Gegenüberstellung von Luther- und
Stadenzitaten, dass Hans Staden offensichtlich die religiösen Volksschriften
Martin Luthers kannte. In seiner Gefangenschaft stützte sich Staden auf diese
Texte und deutete sie entsprechend für seine persönliche Situation. Dr. Schäfer
stellte Stadens Bericht als Konversionserzählung dar, wie wir sie vom Apostel
Paulus kennen: Vor und auf der überfahrt hat Staden noch bekannte Gebete im
Kollektiv gebetet. In großer Angst wird dann aus dem kollektiven Gebet ein
persönliches: „Aus tiefer Not“ und „ich fing an zu singen“.
Schließlich kommt er zu der Selbsterkenntnis, dass sein Schicksal eine
Gottesgabe ist. Ein bekanntes Phänomen: Gott kann sich nur im Fremden zeigen.
Nur wenn der Mensch nicht versteht oder in Not ist, ist er offen für
Gotteserfahrungen.
 Dr. Uwe Schäfer
Staden wird während seiner Gefangenschaft bei einem
Tupi-Indianerstamm zum Glaubensvorbild. Schäfer arbeitete die häufigen
Gebetszusammenhänge in der „Wahrhaftigen Historia“ unter Bezugnahme
auf die damalige Erbauungsliteratur als besondere Form einer Luther-Rezeption
heraus. Diese weist nach seiner Ansicht das Buch von Hans Staden als ein
Beispiel volkstümlicher Glaubensvermittlung der Reformationszeit aus. So kommt
beispielsweise erst in der Reformationszeit das individuelle Gebet auf – mit
Luthers Betbüchlein. Vorher hatten die Christen in Gebetsbüchern vorformulierte
Gebete gesprochen.
Zurück bleibt die Frage, auf welche Recourssen ein moderner Mensch
zurückgreifen kann, der keine religiösen Kenntnisse und keine
Deutungsmöglichkeiten mehr hat.

Die Holzschnitte,

die Stadens Erzählung beigefügt sind,

sind ethnologisch korrekt.
Alexandre E. Mendes, der seine Masterarbeit über Hans Staden an der
Universität Düsseldorf geschrieben hat, analysierte die Holzschnitte, die Teil
des Reiseberichts sind. Sie stellen den Kannibalismus aus europäischer und
indigener Sicht dar, sie sind ethnologisch korrekt – außergewöhnlich für die
damalige Zeit – und zeigen einen enormen Detailreichtum. Es gibt narrative
Bilder, die die Erzählung unterstützen und deskriptive, die die Besonderheit der
Indianer darstellen. Sie vermitteln die Botschaft: Gott bestraft Feinde und
greift ein.
Auf den geografischen Karten tauchen die Namen der Stämme auf, nicht
die Namen der europäischen Eroberer. Staden zeigt: das Land gehört den
Indianern.
In einer Darstellung der Neuveröffentlichungen zum Thema wurde
Sabrina Korf genannt. Sie beschreibt in einer Examensarbeit die
Eurozentriertheit der Wahrnehmungsmuster. Das Fremde bei Staden wird immer aus
persönlichem Blickwinkel gesehen. Die Indianer sind die tyrannischen Wilden, die
Christen stehen auf der anderen Seite. Hans Staden hat einen detailfreudigen
Blick, aber er zeigt nicht wirklich ein „Verstehen“. Wenn man mit
diesem Hintergrund liest, lässt sich der eigene Denkhorizont objektivieren. Mit
den „captibity narratives“ haben wir eine literarische Gattung, die
auch heute sehr aktuell ist.

Indigene, die in ihren Lebensräumen bleiben,

haben eine kollektive Identität,
die zu Nachhaltigkeit
und
Bevölkerungswachstum führt

Dr. Dieter Gaworra, Soziologe aus Kassel, beschrieb das Problem der
Wahrnehmung der Anderen durch die Kolonialbrille. Die Indigenen sollten leben
wie die Europäer, aber auf der sozial untersten Stufe. Sie sollten ihre eigenen
Sprachen und Traditionen aufgeben. Erst 1989 gab es eine internationale
Konvention, die die Eigentums- und Besitzrechte sichert.
Indigene, die in ihren Lebensräumen bleiben und sie nach ihren
Traditionen bewirtschaften, haben eine kollektive Identität. Ihr Bewirtschaften
ist nachhaltig. Sie haben im Kontext ihrer Wissenschaft geschlossene Systeme
entwickelt, die die Natur nicht zum Objekt machen. Sie sind keine Naturschützer,
denn diese sollen die zerstörte Natur schützen.
In der Moderne werden diese Kultivierer vertrieben, in Städte
umgesiedelt und durch moderne Naturschützer ersetzt. Die Nichtwahrnehmung der
anderen und die selektive Rezeption heute war bei Staden noch anders. Er hat die
Indigenen akzeptiert, wie sie sind.
Die Hälfte der Indigenen lebt heute in ihren Gebieten. Dort gibt es
wieder Bevölkerungswachstum, eine umgekehrte Demographie. Es gab auch einmal
Gebärverweigerung, als sie für ihre Kinder keine Zukunft mehr sahen. Nicht
kontaktierte Indigene haben meist Bevölkerungswachstum, wenn es auch sehr kleine
Gruppen gibt, die vom Aussterben bedroht sind.


Die Fachtagung des Regionalmuseums –


eine gelungene Veranstaltung

Die Tagung war von einer Arbeitsgruppe des Regionalmuseums sowohl
inhaltlich als auch organisatorisch hervorragend vorbereitet worden. Der
Grillabend, den der Wolfhager Heimat- und Geschichtsverein bei bestem Wetter
anbot, gab weitere Gelegenheit zum Gespräch. So verließen die Teilnehmer am
Samstagnachmittag erfüllt und gut gestimmt das Gemeindezentrum, das Versprechen
des Homberger Bürgermeisters im Gedächtnis, in zwei Jahren die nächste
Stadentagung in Homberg anzubieten. Homberg / Efze ist der Geburtsort Hans
Stadens. Allen Beteiligten sei Respekt gezollt für ihr Engagement!