Alle Frauen waren schön
Eine wunderbare Geschichtsstunde
im Gemeindezentrum
Welche Farbe
hat deutsche Geschichte am 9. November? Das war die interessante Frage, der
Dr. Aribert Rothe (Erfurt) am Montagabend im Evangelischen Gemeindezentrum
nachging. Zwischen Reichspogrom 1938 und Mauerfall 1989 bewegten sich seine
Erzählungen und seine Einordnungen. Spannend hat er erzählt und die Zuhörer
mit hineingenommen in eine Zeit, die 75 Jahre nach Reichspogrom und 24 Jahre
nach Mauerfall immer noch aufgearbeitet wird. Auch in Wolfhagen.
Es war ein
guter Abend des Aufarbeitens. Mit Dr. Aribert Rothe hatten die Veranstalter
einen guten Griff gemacht. Nicht trocken, sondern mit Herzblut, nicht
leidenschaftslos, sondern mit tiefer innerer Bewegung schilderte der
Erfurter Pfarrer, wie man in der thüringischen Landeshauptstadt mit der
Geschichte umgegangen ist.
9.
November Feiertag
Dr. Rothe
setzte sich mit der Erinnerungskultur in Deutschland auseinander und fragte
sehr ernst, ob nicht der 9. November ein besseres Datum für den »Tag der
Einheit« sei als der bürokratisch gefundene 3. Oktober. Auch wenn der 9.
November eher ein düsterer Tag im Kalender sei und bis 1989 gegipfelt sei in
den reichsweit organisierten übergriffen auf Juden und jüdische Gebäude,
würde dieser Tag wahrscheinlich höhere Resonanz in der Bevölkerung finden.
Warum muss ein »Tag der Einheit« nur ein Jubeltag sein, fragte Dr. Rothe und
vertrat die Auffassung, dass man bei reifer Geschichtswahrnehmung »Ja« zum
9. November als Feiertag sagen könne. Das sei im übrigen gut gegen
Gleichgültigkeit.
Dr. Rothe
berichtete von der Feierkultur der Reichspogromnacht in der DDR und darüber,
dass die Feiern beispielsweise im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald
hochideologisch abgelaufen seien. Christen wie Paul Schneider seien
beispielsweise kaum vorgekommen. Erst in 2007 habe man in Erfurt eine
besondere Erinnerungskultur geschaffen. Dies sei auch deshalb bedeutsam,
weil es in Erfurt die älteste jüdische Synagoge Europas gegeben habe.
24000
Teilnehmer beim Martinsfest
Ganz
lebendig wurde es, als der Erfurter Pfarrer über den Weg zum 9. November
1989 berichtete. Da spürte man: Er war dabei, und er war leidenschaftlich
dabei. Für ihn ist der 9. November als Datum fröhlicher geworden. Er
erinnerte an den Martinstag, der seit 1972 auf dem Domplatz gefeiert wurde –
in schönem ökumenischem Einvernehmen. Mit 24.000 Teilnehmern war diese
Veranstaltung die größte nichtstaatliche Veranstaltung zu DDR-Zeiten, ein
Volksfest. Die Friedensgebete im Jahr 1989 hätten in der Stadt Erfurt
unwillkürlich von den Kirchen der Stadt auf den Domplatz geführt. An jenem
9. November 1989 hätten sich 30.000 Menschen unterhalb des Doms und der
Severinkirche versammelt. Es sei ekliges Wetter, aber eine wunderbare
Stimmung gewesen: alle Frauen waren schön, alle Männer waren mutig. Er
selbst hatte das Friedensgebet zu moderieren. Eine Frau habe ihm nach 19 Uhr
zugeflüstert, dass die Grenzen auf seien. Er habe es nicht für möglich
gehalten. Und er habe auch nicht den Mut gehabt, es den 30.000 Menschen zu
sagen. Aber der Tag selbst sei ein unbeschreibliches Glücksgefühl gewesen.
Natürlich sei in der Folgezeit die Energie raus gewesen aus der
Reformbewegung, Power sei raus aus dem Erneuerungsprozess. Aus »Gorbi hilf«
sei ganz schnell »Helmut hilf« geworden. Für ihn habe der 9. November viele
bunte Farben, auch wenn manche dunkle Flecken blieben.
Wichtiger Abend
Ganz
authentisch berichtete Dr. Aribert Rothe über seine persönlichen
Empfindungen im Zusammenhang historischer Ereignisse. Das war, wie Moderator
Pfarrer Hans Jürgen Basteck abschließend feststellte, »eine wunderbare
Geschichtsstunde«. Und da war es nicht schlimm, dass es kaum noch Fragen an
den Referenten gab. Der hatte so erfreulich bunt berichtet, ein buntes und
vielfältiges, ein fröhliches und nachdenkliches Bild ist entstanden. Ein
wichtiger Abend zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte.
Gut besetzt war der große Saal im Gemeindezentrum.
Pfarrer Hans Jürgen Basteck moderierte den Abend mit Pfarrer Dr.
Rothe.
Nach dem Vortrag: Gespräch von Dr. Rothe mit Rudolf Möse, dem
Vorsitzenden der Kreissynode des Kirchenkreises Wolfhagen.