Vom Mitsingen befreit
und historische Erfahrung
Hermann Neumeyer
über Kirchenmusik und Museum
Wir setzen unsere Serie fort mit Hermann Neumeyer. Nach
seiner Pensionierung als Lehrer am Christian-Rauch-Gymnasium Bad Arolsen
ist er als Organist tätig. Aber er engagiert sich auch als
nebenamtlicher Museumsleiter, im Förderverein
zur Erhaltung der Weidelsburg, als Stadtführer und Nachtwächter.
Im vergangenen Jahr habe ich Sie erlebt als Stadtführer einer
amerikanischen Konfirmandengruppe. Da waren Sie so richtig in Ihrem
Element. Macht es Ihnen besondere Freude, die Schönheit unserer Stadt
den Menschen nahe zu bringen?
Natürlich, denn nur mit dieser Freude kann ich mich der immer neuen
Aufgabe stellen, die Besonderheiten unserer Fachwerkstadt im
fränkisch-sächsischen überschneidungsbereich der ehemaligen
thüringisch-hessischen Landgrafschaft aufzuzeigen, zumal da ja die
reizvollen Plätze und Winkel unserer Altstadt den Gästen nicht so
unmittelbar entgegentreten wie etwa in unseren Nachbarstädten Fritzlar
und Warburg.
ähnlich, wie in der Dreieinigkeit von Gott, Christus und Heiligem
Geist der Schlüssel zu unserem christlichen Glauben begründet liegt,
erschließt sich unsere Stadt dem Besucher erst in der Verbindung von
landgräflicher Burg und vorgelagerter Bürgerstadt zusammen mit dem Geist
ihrer evangelisch-reformierten Prägung zur Zeit der Landgrafen Philipp
dem Großmütigen und Moritz dem Gelehrten. Daher bilden nach dem Beginn
der Stadtführung am Stadtmodell im Museum vor allem die Stadtkirche mit
ihren Schlusssteinen und freigelegten Grabungsbefunden sowie die Süd-
und Nordfassade des Rathauses mit dem gotischen Rathauskeller wichtige
Stationen.
Im Altersheim und an manch anderen Stellen sind Sie in letzter Zeit
auch als Organist zu erleben. Wie kam es zu dieser ehrenamtlichen
Tätigkeit?
Es war der Sonntag Kantate des Jahres 1962, an dem ich in meiner
Heimatgemeinde Wethen bei Warburg zum ersten Mal auf der Orgelbank saß,
unmittelbar nach meiner Konfirmation am vorhergehenden Sonntag. Mein
damaliger Klavierlehrer, der frühere Leipziger Thomaskantor Gottfried
Heinze aus Warburg, hatte mir zuvor auch Orgelunterricht gegeben. So
wurde ich schon früh vom Mitsingen der Kirchenlieder befreit, was mir
mit meiner Stimme auch heute noch schwer fällt. Während
meines Studiums in Gießen war ich zeitweise Organist in der Gießener
Luthergemeinde und danach während meines Referendariats im Wechsel mit
meiner Frau Rosemarie Neumeyer in ihrer Heimatgemeinde Gechingen bei
Stuttgart. Nachdem ich in den letzten drei Jahrzehnten meiner
beruflichen Tätigkeit nur noch selten zum Orgelspielen kam, stehe ich
seit meiner Pensionierung im letzten Jahr wieder regelmäßig als Organist
zur Verfügung.
Wie erleben Sie als Organist die Gottesdienste im Altersheim?
Die Gottesdienste in der Stiftung Altersheim sind für mich in
mehrfacher Hinsicht etwas ganz Besonderes. Man spürt förmlich, welche
Bedeutung in der Wochenstruktur die Gottesdienste am späten
Samstagnachmittag vor allem für diejenigen Seniorinnen und Senioren
haben, die noch über genügend mentale Spannkraft verfügen. Diese
Gottesdienstbesucher nehmen so stark an diesem immer
wiederkehrenden Ereignis teil, dass sie mit ihrem Geist, mit ihren
Lippen, ja sogar auch mit ihrer eigenen Stimme das gesprochene Wort im
Gottesdienst aktiv begleiten. Dass dabei manche Lieder gesungen werden,
während das aufgeschlagene Gesangbuch in der Kopfstellung in ihren
Händen ruht, ist nicht entscheidend, singen doch viele Heimbewohner die
Liedtexte auswendig. Wenn ich diese Erfahrung der aktiven
Gottesdienstteilnahme der Seniorinnen und Senioren vergleiche mit meiner
Erinnerung an die Standortgottesdienste der Gießener Militärgemeinde,
die ich als Student am Mittwochmorgen in der Luthergemeinde begleitete,
wo ich, falls nötig, mit dem vollen Werk spielte, damit einige Soldaten
wieder wach wurden…
Einerseits gibt der Gottesdienst manchen Seniorinnen und Senioren so
viel Kraft, dass sie mit innerer Genugtuung und Erfüllung eine Stunde
lang aktiv an ihm teilnehmen könnten, während andere ihn eher als Ritual
erleben, das auch durch das zwischenzeitliche Abtauchen in das eigene
Unbewusste nicht gestört wird.
Auch die Erfahrung, nicht nur musikalisch Menschen zu begleiten, deren
Vitalität und Präsenz vor noch nicht allzu langer Zeit bei vielen
Anlässen zu spüren waren, die sich aber jetzt am Ende ihres irdischen
Lebens auf das Wesentliche konzentrieren müssen, ist sehr hilfreich, die
Vergänglichkeit der eigenen Existenz immer wieder neu zu bedenken und
das eigene Leben in Verantwortung sukzessive daran
auszurichten.
Bei der Archöologischen Fachtegung im vergangenen Jahr war Hermann
Neumeyer nicht nur ein aufmerksamer Zuhörer, sondern auch ein kritischer
Fragesteller.
Museum und Kirche: Wo liegen für Sie die Verbindungen und welche
Chancen sehen Sie in der Zusammenarbeit?
Vordergründig betrachtet sind Museum und Kirche ideell unvereinbar,
denn in einem Museum findet man Objekte, die nach der Zeit ihres aktiven
Gebrauchs beiseitegelegt wurden und die danach nur noch mit Hilfe
nachträglicher Maßnahmen der Präsentation an ihre Zeit der Verwendung
erinnern. Jedoch ist die Kirche mit ihrer Botschaft, um deren Weitergabe
sie sich aktiv bemüht, in der Gegenwart verankert und dabei allen
Stürmen ausgesetzt, die eine Verankerung des Kirchenschiffes auf festem
Grund erschweren können. Einen schützenden musealen Raum für die Kirche
gibt es nicht.
Darüber hinaus sind sowohl Kirche als auch Museum durch die
historische Erfahrung bestimmt. Nicht nur die Inhalte des Museums haben
ihre Entstehungszeit, wie etwa ein bronzezeitliches Tongefäß, sondern
auch die Inhalte des Christentums, deren Kern in Gestalt des Messias die
Propheten bereits ankündigten. Eine nur theoretische Grundlegung reicht genauso wenig für die Kirche
aus, wie ein Museum ohne konkrete Exponate auskommt.
über die historische Dimension ergeben sich aber auch Chancen der
Zusammenarbeit von Museum und Kirche. Für die erfolgreichen
Erkundungsreisen des späteren Wolfhager Bürgers Hans Staden nach
Südamerika, dem im Wolfhager Regionalmuseum eine ganze Abteilung
gewidmet ist, war zum Beispiel entscheidend, dass sein in der Zeit der
Reformation gestärktes Gottvertrauen ausreichte, um von der christlichen
Offenbarungsreligion auch die Brücke hin zu völlig fremden
Naturgottheiten herzustellen. Diese religiöse Verbindung war letztlich
die Voraussetzung für den erfolgreichen Ausgang seiner Expeditionen,
deren Ergebnisse er später in Wolfhagen niederschrieb.
Herzlichen Dank für das Gespräch, lieber Herr Neumeyer. Wir
wünschen Ihnen eine schöne Sommerzeit.
Die Fragen stellte für die Homepage-Redaktion Günther Dreisbach.